In Memoriam
PROF. DR. - ING. habil.
CLAUS MEIER
Architekt SRL, BayAK
Nürnberg



Das Lichtenfelser Experiment
Auf dem Symposium des VBN und BVS ”Energieeinsparverordnung” am 14. Dez. 2002 in Hannover referierte Prof. Gertis über ”Dämmen wir uns krank? Werden Energieeinsparung und Schimmelpilz sachlich diskutiert?”

Dabei ging er auch auf die Veröffentlichungen [1] und [2] ein, die in der Fachwelt hohe Wellen schlugen. Die etablierte Bauphysik-Szene war entrüstet, die verarbeitende Dämmindustrie schockiert, man widersprach.
Hier die wichtigsten Aussagen aus [1] und [2]:
  • Der Tagesrhythmus ist geprägt von ständigen Temperaturveränderungen, sowohl der Luft- als auch der Oberflächentemperaturen infolge absorbierter Solarenergie.
  • Die Behaglichkeit im Innenraum erfordert die Speicherfähigkeit der verwendeten Materialien und damit die notwendige Temperaturstabilität der Außenhülle.
  • Maßgebend ist nicht die stets im Vordergrund stehende Wärmeleitfähigkeit l, sondern die Temperaturleitfähigkeit a, das Speichervermögen Qs und der Wärmeeindringkoeffizent b, um günstige Raumklimaverhältnisse zu schaffen.
  • Für die Außenwand eigenen sich besonders schwere Massivziegel und Massivholz.
  • Wärmedämmstoffe sind dagegen sehr empfindlich gegenüber Temperaturveränderungen, sie besitzen wegen fehlender Speicherfähigkeit keine Temperaturstabilität.
  • Der U-Wert, der bei Dämmstoffen besonders “günstig” ausfällt und bei allen Energiebedarfsberechnungen die maßgebende Rolle spielt, ist kein geeigneter Maßstab für energie- und klimagerechtes Bauen.
Durch den Gertis Beitrag, als Skript auf der Veranstaltung verteilt, wurden diese in [1] und [2] dargelegten Fakten nun eindrucksvoll untermauert.
Das in [1] veröffentlichte Diagramm, das die auf der Rückseite einer 4 cm dicken Probe gemessenen Anfangstemperaturen und die nach 10 Minuten erreichten Oberflächentemperaturen geradlinig verbindet, wird zwar einmal beanstandet (die beiden Meßpunkte "Start" und "10 Minuten" werden durch eine Gerade verbunden, also Linearität unterstellt - was einen weiteren Fehler darstellt), doch zum anderen auch als richtig angesehen.
Hierzu heißt es dann: “In diesem winzigen Zeitfenster ergeben sich in der Tat die linearisierten Gradienten. Die Messung selbst dürfte deshalb im Rahmen der sonstigen Meßgenauigkeit sogar richtig sein”. Es wird also die Richtigkeit der Versuchsergebnisse bestätigt.

Anmerkung: Diese gegensätzlichen Aussagen zeugen von Oberflächlichkeit im Denken.
Die beste Bestätigung der in [1] und [2] gemachten Aussagen liefert jedoch das im Skript enthaltene Bild 13, das deutlich erkennen läßt: Maßgebend für die unterschiedlichen Temperaturverläufe in den verschiedenen Materialien ist die Zeit. Hier wird dann zwischen stationär (nach langer Zeit) und instationär (unmittelbar nach Einwirken der Temperaturveränderung) unterschieden:
a)    Stationär: Hierzu heißt es im Text: “Erst nach längerer Zeit wird asymptotisch ein horizontaler Endverlauf, d. h. der stationäre Endzustand erreicht. Der stationäre Endwert der Kurven ist von der Wärmeleitfähigkeit, also vom Dämmwert, abhängig”.
Nun interessiert jedoch nicht der Wärmestrom, der sich “nach langer Zeit” (im Bild 13 sogar mit der Zeit unendlich angegeben) ergibt, wenn also im Bauteil der Beharrungszustand, d. h. die gleichmäßige Temperaturverteilung mit konstantem Wärmestrom, vorliegt, sondern die bei Temperaturveränderungen unmittelbar auftretenden thermischen Reaktionen.
b)    Instationär: Für die Zeit vor dem stationären Bereich muß vom instationären Zustand ausgegangen werden. Hierzu heißt es im Text: “Der übrige nichtlineare Kurvenverlauf hängt nicht von der Wärmeleitfähigkeit , sondern von der Temperaturleitfähigkeit ab”.
Dies ist der entscheidende Satz. Im 24 Stunden-Zeitrahmen wird nie die "Temperaturkonstanz", der stationäre Zustand erreicht. In Realität liegt stets der instationäre Zustand vor und hier gilt dann die Temperaturleitfähigkeit a, wie von Gertis selbst angegeben, aber auch das Speichervermögen Qs und der Wärmeeindringkoeffizient b.

Zusammenfassend heißt es dann im Text: “Der instationäre Aufheizvorgang ist von der Temperaturleitfähigkeit geprägt, der stationäre Endzustand hingegen von der Wärmeleitfähigkeit”. Das bedeutet im Klartext: Alle Berechnungen nur mit der Wärmeleitfähigkeit gelten lediglich für den “Endzustand”, der aus Zeitgründen aber nie eintritt.

Das Ziel des “Lichtenfelser Experimentes” war es, die unmittelbaren thermischen Reaktionen unterschiedlicher Materialien bei Aufheizvorgängen (Temperaturveränderungen) festzustellen. Dies war wichtig, denn die erzielten Ergebnisse zerstören die weit verbreitete Vorstellung, bei energetischen Fragestellungen sei nur eine “gute” Dämmung anzustreben. Nein, die Speicherfähigkeit ist wesentlicher Bestandteil eines klimagerechten Hauses, das den großen Temperaturveränderungen Widerstand entgegensetzen muß. Nicht der “stationäre” Zustand nach langer Zeit, sondern der “instationäre” Zustand sofort nach Einwirken einer Temperaturveränderung ist entscheidend.

Aber gerade dies wird im Text von Gertis moniert, dort heißt es:
”Beim Lichtenfelser Experiment handelt es sich nämlich um einen Aufheizvorgang, an dessen Ende erst der stationäre Temperatuzustand erreicht worden wäre. So lange haben die “Experimentatoren” aber nicht gewartet, sondern den Versuch nach 10 Minuten abgebrochen – was einen Fehler darstellt”.

Wie schon erläutert, stationäre Zustände am Ende von Aufheizvorgängen zu fixieren, war nicht die Aufgabe - das Rechnen im “Beharrungszustand” ist ein alter Hut. Da es sich in Realität infolge der Sonneneinstrahlung stets um Aufheiz- und dann nachts um Abkühlvorgänge im instationären Bereich handelt, interessiert der stationärer Zustand nicht. Der Fehler war offensichtlich der, diese Fragestellung überhaupt zu bearbeiten, da die ermittelten Ergebnisse die üblichen rechnerischen Verfahrengänge in der Bauphysik ad absurdum führen.

Dieser Gertis`sche Beitrag bestätigt in eindrucksvoller Weise die Fragwürdigkeit der Positionen, die die "offizielle Bauphysik" vertritt - Beharrungszustand ist eine Fiktion. Die Formeln in der DIN 4108, die ja den Beharrungszustand voraussetzen, sind demzufolge hinfällig, sie sind nicht brauchbar. Es handelt sich um Phantomrechnungen.

Was ist daraus abzuleiten?
Selbst der Versuch, mit Argumenten "Gegenbeweise" zu liefern, endet mit der Bestätigung der in [1] und [2] gemachten Aussagen.
Ist es nun pure Hilflosigkeit oder bereits das langsame Zurücknehmen fehlerhafter Positionen in der offiziellen Bauphysik?
Oder ist es vielleicht die nach außen hin demonstrierte tolerante Haltung in Veranstaltungen, die dem Negativ-Image einer doktrinären Haltung entgegenwirken soll, wobei dann letztendlich doch alles beim Alten bleibt – Zugeständnisse werden ja als Niederlage empfunden.

Dies würde dann die Grundeinstellung der offiziellen Bauphysik bekräftigen: “Wir wissen zwar, daß wir vieles falsch machen – aber wir bleiben dabei”.
Wie dem auch sei, die Auseinandersetzung wird spannend und interessant werden.
Claus Meier

[1] Fischer, K.; Köneke, R.+; Lipfert, F.; Meier, C.; Parsiegla, H.: Temperaturmessung – Dämmstoffe im Vergleich. Bautenschutz + Bausanierung 2001, H. 8, S. 9.
[2] Meier, C.: X für ein U; Der U-Wert und seine Brauchbarkeit. Bautenschutz und Bausanierung (B + B), 2002, H. 6, S. 73.

08.02.2003http://ClausMeier.tripod.com